Der sogenannte Werkstattverweis tritt in Kraft, wenn ein Unfallgeschädigter seinen Unfallschaden fiktiv, das heißt auf Gutachterbasis, abrechnet und die Haftpflichtversicherung des Schädigers dem Geschädigten eine günstigere Werkstatt nennt, in der er das Unfallfahrzeug zu niedrigeren Kosten reparieren lassen kann als im Gutachten des Geschädigten angegeben. Selbst wenn das Fahrzeug bereits vor dem Verweis in Eigenregie repariert wurde, wird dies nicht berücksichtigt. In diesem Fall erstattet die Versicherung des Unfallverursachers nur den Betrag, den eine solche „Billigwerkstatt“ für die Reparatur des Fahrzeugs veranschlagt.
Fiktive Abrechnung oder konkrete Reparatur?
Geschädigte haben die Möglichkeit, zwischen einer konkreten und einer fiktiven Abrechnung zu wählen. Bei der konkreten Abrechnung wird das Fahrzeug gemäß eines Sachverständigengutachtens repariert. Bei der fiktiven Abrechnung erhält der Geschädigte den für die Reparatur erforderlichen Geldbetrag vom Schädiger oder dessen Versicherer.
Wenn Geschädigte sich für eine fiktive Abrechnung entscheiden, verweisen Versicherer oft auf eine günstigere Reparaturmöglichkeit, um die Erstattungsleistungen zu reduzieren. Der Verweis zielt darauf ab, die Kosten für die Versicherung zu senken. Wenn die Voraussetzungen für einen solchen Verweis erfüllt sind, kann die Versicherung basierend auf den Stundenverrechnungssätzen der vorgeschlagenen Werkstatt abrechnen
Schadenminderungspflicht des Geschädigten
Der Verweis wird unter dem Gesichtspunkt der Schadenminderungspflicht gemäß § 254 Abs. 2 BGB subsumiert, wodurch der Geschädigte auf eine günstigere Reparaturmöglichkeit in einer mühelos und ohne Weiteres zugänglichen „freien Fachwerkstatt“ verwiesen werden kann. Dazu muss der Unfallverursacher bzw. seine Haftpflichtversicherung darlegen, dass eine Reparatur in dieser Werkstatt vom Qualitätsstandard her der Reparatur in einer markengebundenen Fachwerkstatt entspricht und gegebenenfalls vom Geschädigten aufgezeigte Umstände widerlegt, die diesem eine Reparatur außerhalb der markengebundenen Fachwerkstatt unzumutbar machen.
Wann darf der Verweis erfolgen?
Es ist wichtig zu beachten, dass eine Verweisung auf eine Billigwerkstatt nur dann rechtens ist, wenn der Geschädigte sein Fahrzeug nicht reparieren lässt.
Allerdings hat der Bundesgerichtshof (s.u.) auch entschieden, dass im Falle der Geschädigte sein Fahrzeug im Ausland sehr viel billiger reparieren lässt, im Streitfalle auch nur diese „billige Auslandsreparatur“ der Schadensabwicklung zugrunde zu legen ist, selbst wenn die deutsche „Billigwerkstatt“ teurer war, als die Auslandsreparatur!
Aber der Bundesgerichtshof hat auch entschieden, dass eine Reparatur des Fahrzeuges in der Billigwerkstatt zumutbar sein muss. Zunächst muss die Verweiswerkstatt für den Geschädigten mühelos und ohne Weiteres zugänglich sein (Im Umkreis bis max. 30 km), so der BGH, Urt. v. 07.02.2017, Az. VI ZR 182/16 ). Zudem muss der Schädiger darlegen und ggf. beweisen, dass eine Reparatur in dieser Werkstatt vom Qualitäts- und Leistungsstandard her der Reparatur in einer markengebundenen Fachwerkstatt entspricht (BGH, Urt. v. 20.10.2009, Az. VI ZR 53/09; v. 13.07.2010, Az. VI ZR 259/09; s.a. AG Überlingen, Verfügung v. 17.01.2023, Az. 1 C 142/22; AG Kiel, Urt. v. 17.10.2022, Az. 115 C 261/22).
Ein Verweis auf eine „Billigwerkstatt“ ist jedoch nicht zulässig, wenn diese Sonderkonditionen ausschließlich für die gegnerische Versicherung gelten. (BGH – NJW 2015, 2110 = VersR 2015, 861).
Wann ist ein Werkstattverweis unzulässig?
Unzumutbar ist laut BGH eine Reparatur in einer freien Fachwerkstatt im Allgemeinen, wenn
- das beschädigte Fahrzeug zum Unfallzeitpunkt nicht älter als drei Jahre war
oder
- es sich um ein Fahrzeug handelt, das älter als drei Jahre ist, das aber regelmäßig in einer markengebundenen Fachwerkstatt gewartet und gegebenenfalls auch repariert wurde (“scheckheftgepflegt”)
In diesen Fällen darf ein Verweis nicht erfolgen und der Geschädigte hat auch bei einer fiktiven Abrechnung den Anspruch, die Kosten der Reparatur in einer Markenwerkstatt reguliert zu bekommen.
Weitere von der Rechtsprechung anerkannte Fälle einer Unzumutbarkeit:
- Die Verweiswerkstatt ist nur deshalb günstiger ist als die markengebundene Fachwerkstatt, weil nicht zu marktüblichen, sondern zu – mit dem Versicherer vereinbarten -Sonderkonditionen abgerechnet wird (z.B. BGH, Urt. v. 28.04.2015, Az.VI ZR 267/14).
- Die Verweiswerkstatt ist für den Geschädigten nicht leicht erreichbar, wenn sie mehr als 20 Kilometer vom Wohnort des Geschädigten entfernt ist. Dies wurde vom Bundesgerichtshof (Urteil vom 25.09.2018, Az. VI ZR 65/18) und verschiedenen Gerichten bestätigt, darunter das Amtsgericht Freiburg/Breisgau (Urteil vom 28.06.2022, Az. 2 C 247/22) und das Oberlandesgericht Karlsruhe (Beschluss vom 28.07.2015, Az. 1 U 135/14). Eine mühelose Erreichbarkeit besteht in der Regel nur dann, wenn die vom Schädiger benannte Referenzwerkstatt nicht mehr als 20 km vom Wohnort des Geschädigten entfernt ist, wobei die Luftlinie keine Rolle spielt. Auch die Lage der Werkstatt im Gemeindegebiet des Wohnorts des Geschädigten ist nicht relevant.
- Die Verweiswerkstatt bietet keinen kostenlosen Hol- und Bringdienst an (AG Hamburg Altona, Urt. v. 26.07.2018, Az. 314a C237/17). Allerdings hat das AG Besigheim (Urt. v. 14.03.2022, Az. 3 C 343/21) die Pflicht zu Inanspruchnahme einer Verweiswerkstatt verneint, obgleich diese einen kostenlosen Hol- und Bringservice angeboten hatte (vgl. hierzu auch LG Hagen, Beschl. v. 16.07.2012, Az. 7 S 11/12). Da dies aber augenscheinlich nicht dem Standard der Werkstatt entsprach, sondern maßgeblich auf die Einflussnahme des Versicherers auf die Werkstatt zurückzuführen war, stufte das Gericht dies als unvereinbar mit der Dispositionsbefugnis des Geschädigten ein.
Mit welchem Stundensatz darf abgerechnet werden?
Weiterhin war streitig, mit welchem Stundenverrechnungssatz die fiktive Abrechnung gemäß § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB zulässig ist.
Grundsätzlich haben Geschädigte laut Rechtsprechung in der Regel Anspruch auf den Ersatz der Reparaturkosten, die in einer markengebundenen Fachwerkstatt angefallen wären. Dies gilt unabhängig davon, ob das Fahrzeug tatsächlich vollständig, teilweise oder gar nicht repariert wurde.
Weitere Rechtsprechung zu diesem Thema:
- In einem Urteil vom 04.01.2021 wies das Landgericht Hamburg darauf hin, dass die mühelose Erreichbarkeit nicht allein von einer starren Kilometergrenze abhängt. Neben der Entfernung sind auch der zeitliche und der Transportaufwand zu berücksichtigen (LG Hamburg, Urteil vom 04.01.2021, Az. 323 S 43/20). Eine Entfernung, die mit dem Auto innerhalb kurzer Zeit zurückgelegt werden kann, kann mit öffentlichen Nahverkehrsmitteln zu einer Tagesreise ausarten (AG Tettnang, Urteil vom 18.06.2021, Az. Yu 3 C 169/21).
- Dem AG Lübeck zufolge (Urt. v. 09.11.2020, Az. 26 C 759/19), ist eine Verweiswerkstatt dann nicht „mühelos und ohne weiteres erreichbar“, wenn sie „unstreitig 17,3 km vom Wohnort des Klägers entfernt ist, während eine markengebundene Fachwerkstatt sich deutlich näher zum Wohnort des Klägers entfernt befindet. Der Kläger hat daher berechtigterweise eingewandt, dass ihm das Verbringen seines Fahrzeugs in die von den Beklagten vorgeschlagene Werkstatt wegen der Entfernung zum Wohnort unzumutbar ist“ (OLG München, Urt. v. 21.09.2022, Az. 10 U 5397/21 e).
- Das OLG München (Urt. v. 21.09.2022, Az. 10 U 5397/21 e; v. 30.11.2020, Az. 344 C 5810/20) haben die Verweisung an eine Referenzwerkstatt – unter Hinweis auf die aufzuwendende Fahrtzeit – abgelehnt. Die Entfernung zur Werkstatt betrug zwar nur 17,3 km, die Fahrtzeit mit dem ÖPNV aber über eine Stunde.
- Zusätzlich zu den rechtlichen Überlegungen spielen auch ökologische Aspekte eine Rolle: „In einer Zeit, in der der Klimaschutz und die Bemühungen auf nationaler, europäischer und globaler Ebene zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes, zur Eindämmung des Klimawandels und der globalen Erwärmung an Bedeutung gewinnen, ist es äußerst bedenklich und kontraproduktiv, einem geschädigten Fahrzeughalter die Überwindung übermäßig langer Strecken zur Reparatur seines Fahrzeugs aufzuerlegen“ (Amtsgericht Mannheim, Urteil vom 20.02.2020, Az. 3 C 4445/19).
- Ferner muss die Werkstatt, auf die verwiesen wird, auch tatsächlich in der Lage sein, die erforderlichen Reparaturen fachgerecht durchzuführen. Das Amtsgericht Überlingen machte dies deutlich, nachdem ein Versicherer dem Geschädigten lediglich einen üblichen Kostenvergleich zugesandt hatte, den dieser nicht akzeptierte. Das Gericht entschied: „Es ist erforderlich, nachzuweisen, dass die Verweiswerkstatt tatsächlich in der Lage ist, die erforderlichen Reparaturarbeiten – nämlich die vollständige fachgerechte Behebung der durch den Unfall verursachten Schäden im Sinne einer markengebundenen Fachwerkstatt – zu einem niedrigeren Gesamtpreis durchzuführen“ (Amtsgericht Überlingen, Urteil vom 17.01.2023, Az. 1 C 142/22).
- Als „aus sich selbst heraus nicht nachvollziehbares Zahlenwerk mit einem ebensolchen Abschlusssaldo“, kann ein Prüfbericht einem eigenständigen, aussagefähigen Schadensgutachten nicht das Wasser reichen. Dies gilt nicht zuletzt dort, wo der Prüfbericht einfach nur die Preise austauscht (LG Berlin, Urt. v. 07.08.19, Az. 42 S 66/19).
- Als Grundlage für eine Verweisung an eine andere Werkstatt könnte es ausreichend sein, wenn ein konkretes schriftliches Angebot der Alternativwerkstatt vorliegt, das hinsichtlich der technischen Gleichwertigkeit der Reparatur überprüfbar ist (Urteil des Amtsgerichts Berlin Mitte vom 30.04.2021, Az. 101 C 158/20 V). Ein wichtiges Kriterium könnte sein, dass markengebundene Werkstätten in der Regel nicht nur über umfangreiche Erfahrung mit der jeweiligen Marke verfügen, sondern auch vollen Zugang zu den Herstellerdatenbanken haben (Urteil des Amtsgerichts Berlin Mitte vom 09.01.2023, Az. 113 C 86/22).
Beitrag von Rechtsanwalt Marioush